Fragt man nach den Möglichkeitsbedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik, entsteht Unterscheidungsbedarf: man muß Hermeneutik von Hermeneutik unterscheiden. Sie wird differenziert und vervielfältigt – mit dem Nebeneffekt, daß die Dominanz einer Tradition entselbstverständlicht wird.
Fragt man nach den sachlichen Gründen für ‚Hermeneutik trotz allem’, muß man sie von den Problemen unterscheiden, auf die sie Antwort geben wollte. Was war die Frage, auf die die Hermeneutik Antwort sein sollte? Was sind die Probleme der Hermeneutik – im doppelten Sinn?
Hermeneutik ohne Hermeneutikkritik ist blind (gegenüber ihren Schwächen, nötigen Erweiterungen und Alternativen). Hermeneutikkritik ohne neue Hermeneutik ist leer (gegenüber den Herausforderungen des Verstehens und Nichtverstehens oder Interpretierens und Deutens). Wenn Verstehen nötig ist (was keineswegs universal und immer gilt), muß man klären, wie es möglich und wirklich wird. Es bedarf dann der kritischen Reflexion auf das Verstehen und seine Probleme, wie immer man diese Reflexion nennen mag. Hermeneutik ohne Grenzen wäre maßlos und übergriffig (hermeneutical harassment).
Falls also Hermeneutik trotz allem, fragt sich: welche, wie und zu welchem Ende? Jedenfalls eine, die möglichst die Probleme der ‚alten Hermeneutik‘ vermeidet, also deren Kritik konstruktiv aufzunehmen vermag, und die die Blindheiten alter Hermeneutik zu erhellen vermag, die nicht vom ‚Immer-schon-verstehen‘ ausgeht, sondern vom Nichtverstehen, die das Verstehen nicht soteriologisch überinterpretiert und die mit irreduziblen, nicht aufzuhebenden Differenzen differenzwahrend umgeht.